Aus »Unstrutleuchten. Erstes Buch«. Gedichte 2014, Vers 42986 bis 43033
YGGDRASIL
Esche, fruchtbar, zäh, gewandt,
Holzgewordne Willenskraft,
Wurzelnd noch im kargsten Stand
Bis der Weg zum Licht geschafft,
Macht sie jung kein Schatten zag,
Doch es heißt im neunten Lenz,
Daß sie Neider nicht ertrag
Und den Raum zum Kreis ergänz.
Uralt wird sie nicht, doch ziehn
Zwölf Geschlechter in die Nacht,
Eh ihr Sonne nicht mehr dien,
Eh sie ihren Tag vollbracht,
Hoch und herrlich ausgestreckt,
Schütter hie in herbem Stolz,
Hütet sie, was in ihr steckt
Biegsam wie kein andres Holz.
Mag die Eiche härter stehn,
Ist sie sorgenreich als Kind,
Auch die Buche kann erst gehn,
Wenn die Eschen zahlreich sind.
Die geflügelt trägt die Nuß,
Weiß sich Dämmer nah und Traum,
Weil sie groß vorangehn muß,
Heißt sie uns der Weltenbaum.
Ehr Getier als Herbstgestürm
Drohen Kern und Borkenhaus,
Nager, Nister, Neidgewürm,
Motte, Käfer, Pilz und Maus.
Wulst und Zwiesel, Narbe, Grind –
Ob sich je die Wunde schließt?
Diesem Baume Orden sind
Scheiben, die man sonst beschießt.
Wo das Volk noch ungeschlacht,
Ist der Baum ihm Held und Ahn,
Der viel tiefer in die Nacht
Ragt, der Moder, Rausch und Wahn
Seine offnen Glieder bot,
Nicht wie wir in Licht und List,
Dem, was lebt und was schon tot
Nicht so streng geschieden ist.
Und der Baum als erster wuchs,
Eh das Eichhorn macht ihn bunt,
Himmelskind, die Erde trugs,
Einsam, groß, beherzt und wund –
Banner, Säule, Richter, Recht
Sonnenuhr und Schattenspiel,
Schirmer überm Weltgefecht
Und geheißen Yggdrasil.