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Die Bibliothek

Ein Skandalon

Jenseits der Fünfzig wird der Mensch vorsichtig, und dies nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Kaum einem bleibt die Erkenntnis erspart, daß er nicht mehr im Trend liegt, ja, daß er die herrschenden Trends immer schwerer nachvollziehen kann. Gleichzeitig wird immer mehr, was früher nur gegen Widerstände durchgesetzt und aufgebaut wurde, als entbehrlich oder gar als störend eingestuft, und so sieht sich mancher einstige Himmelsstürmer jäh als Relikt mit abgelaufenen Ansprüchen. Ob man früher laut war oder nicht, im Lebensherbst ist es angezeigt, das Eigene nicht dem allzu grellen Licht auszusetzen, denn dieses könnte behaupten, es seien nicht nur die Dinge obsolet, an denen man hängt, sondern am Ende man selber.
Diese kleine Schrift, mit der ich mein Gewissen erleichtere, wird man wohl erst nach meinem Tod finden. Ich werde sie gut verstecken, da ist mir in keiner Weise bange. Natürlich ist es die gröblichste Mißachtung der Vorsicht, wenn man solche Gedanken zu Papier bringt. Gott allein mag wissen, was Menschen immer wieder treibt, sich um Kopf und Kragen zu schreiben, obwohl es doch zahllose Bespiele gibt, daß das Verstecken nicht immer gelingt und unvorhersehbare Mitwisser auftreten können. Ich persönlich sehe da keine Wahl, denn im fortgesetzten Schweigen kann ich keinen inneren Frieden mehr finden.
Die Bibliothek, von der fürder die Rede sein soll, besteht schon seit Kaisers Zeiten. Ich kann da nicht viel dazu sagen, weil mein historisches Interesse erst zu einer Zeit aufkam, als bereits die meisten Zeugnisse der Vergangenheit vernichtet oder unter Verschluß geraten waren. Mein Bericht beginnt also erst in den 1980er Jahren, als unsere thüringische Kleinstadt noch mit Minen und Stacheldraht von Bayern abgetrennt war. Ich gehörte nicht zu den Leuten, die dieser Umstand damals besonders umtrieb, ich wollte niemals in ferne Länder und überhaupt fand ich die 26 Buchstaben des Alphabets abenteuerlicher als Afrika und Amerika zusammen. Der leidenschaftliche Wunsch, das Lesen zu lernen, hatte mich einst mit dem Zwang zum Schulbesuch versöhnt, und ich blieb dabei, daß ein Ort mit Büchern kein schlechter sein könne. Die Bibliothek war mir schon sehr vertraut, als ich für ein paar Jahre das Elternhaus mit dem Studentenwohnheim vertauschte und sie nach wenigen Arbeitsjahren in anderen Bibliotheken als Leiter übernahm. Mancher bescheinigte mir mangelnden Ehrgeiz, daß ich in meine Heimatstadt zurückkehrte, obwohl meine Studienergebnisse eine Karriere in einer Universitätsbibliothek oder zumindest in einer Kreisbibliothek mit Filialen verhießen. Aber mir mißfiel die dazugehörige Pflicht, sich immer ins rechte Licht zu setzen. Mit Parteimitgliedschaft wäre es nicht getan gewesen, ich hätte mich als Aktivist hervortun müssen, das ist vielleicht nicht so schwer zu verstehen, denn heute ist das ja alles noch schlimmer als damals. Außerdem lebten meine Eltern noch, und ich hatte auch Freunde aus der Schulzeit.
Der Eingang zur Bibliothek liegt an einem kleinen Nebenplatz des Marktes, dem Topfmarkt, große Linden verdecken den direkten Blick zum Rathaus. Also nicht das erste Haus am Platze, aber doch sehr zentral gelegen. Sie bestand aus mehreren verbundenen Häusern, zu denen neben Wohnungen auch zwei Läden in einer Gasse gehörten. Der größere von beiden war zu DDR-Zeiten ein Lebensmittelgeschäft, weil es noch eine andere Buchhandlung im Ort gab und Bibliotheken direkt von der Kreisbuchhandlung beliefert wurden. In dem kleineren werkte damals wie heute unser Buchbinder Herr Gärtner, von dem noch manches zu erzählen sein wird.
Die Wiedervereinigung brachte viel Aufregung. Wir bekamen unsere Buchhandlung zurück, ein mit mir gleichaltriger Buchhändler kam damals neu in unsere Stadt und überzeugte die Behörden von der Attraktivität eines modernisierten Komplexes aus Buchhandel, Binderei und Bibliothek. Leider besaß er nicht die Dreistigkeit und auch nicht die obrigkeitlichen Fürsprecher, um die gesamte Liegenschaft wie damals üblich für eine Mark zu kaufen. Dann hätte ich wohl auch meinen heutigen Bericht niemals schreiben müssen. Ich bin mit ihm per Du und teile mit ihm seit dem Tod meiner Eltern die Wohnung, ich werde ihn also im weiteren bei seinem Vornamen Heinrich nennen.
Wir führten die elektronische Datenverarbeitung ein und analysierten das Ausleihverhalten und die Wünsche der Leser. In der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung sank das literarische Niveau gewaltig, die Leute wollten fast ausschließlich die Bücher, welche ihnen die DDR, nach meinem heutigen Urteil zu Recht, vorenthalten hatte. Damals litt ich nicht unter dem Schund, weil es organisatorisch eine Herausforderung war, mit bescheidenem Etat eine Erfolgsbilanz vorzulegen. Immerhin habe ich mich niemals mit Videofilmen oder gar -spielen eingelassen, auch heute gibt es bei mir weder Hörbücher noch andere Buchersatzstoffe.
Heute sind Heinrich und Herr Gärtner formal selbständig und tragen sogar zur Finanzierung der Bibliothek bei. Ich selber und meine Mitarbeiterin Frau Kaczynski sind offiziell halbtags angestellt, und mit der letzten Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes sind wir diesem sehr nahe gekommen. Unsere Bescheidenheit schuf bislang eine knappe Mehrheit im Stadtrat, das Kuriosum der Bibliothek zu erhalten. Immerhin treibt sich seit Jahren ein Spekulant herum, der unsere Häuser abreißen und ein Hochhaus mit Fast-Food-Kette im Erdgeschoß und Eigentumswohnungen darüber bauen lassen will. Wir haben diese Gefahr nie besonders ernst genommen. Die Kleinstädter mögen uns, und eine Großbaustelle mit Verkehrschaos ist auch unpopulär. Die Lokalzeitung hat auch vor nicht so langer Zeit einen rundum positiven Artikel über uns gebracht. Keine Rede davon, daß hier alte Leute Romane ausleihen, die weder im Wortschatz noch in der Rechtschreibung den aktuellen Vorgaben entsprechen. Es wurde vielmehr geschrieben, daß ich noch immer den Neuerscheinungsdienst der Deutschen Nationalbibliothek und auch eine Vielzahl von Verlagsvorschauen durcharbeite. Daß Heinrich über internationale Internet-Plattformen anbietet und Bücher selbst nach Japan und China verkauft. Frau Kaczynski avancierte für die Kolumene von einer Buchhalterin zur polyglotten Marketing-Expertin, es war sogar von feministischer Außenpolitik die Rede. Eben ein Jubelartikel von blühenden Landschaften.
Herr Gärtner war natürlich nicht dabei, als wir dem Journalisten erzählten, was der hören wollte. Für ihn hatte sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. Als ich die Leitung der Bibliothek übernahm, war sein Vater gerade gestorben, der noch die Einbände für die hier früher ansässigen Verlage gefertigt hatte. Als Herr Gärtner nach dem Krieg das Handwerk erlernte, waren die Lehrlinge seltener in der Berufsschule als am Arbeitsplatz, und diesen hatte er bei seinem Vater, als Lehrling, als Geselle, als Meister. In den 1980er Jahren band er Bücher vor allem für Privatleute, von denen sich viele diesen Luxus leisteten und leisten konnten. Nach der Wende schwand dieser Markt, und die Bibliothek nahm diese Leistung auch kaum noch in Anspruch. Gleichwohl öffnete er täglich um acht seinen Laden, in dem man kein Staubkorn fand. Er trug einen altmodischen weißen Kittel, obwohl es keinen Anlaß gab, die Kleidung darunter zu schonen. In Ermangelung anderer Beschäftigung war er meistens dabei, seinen bescheidenen Warenbestand zu zählen und mögliche Unordnung zu beseitigen. Buchbinder- und Druckereipapiere waren kaum noch darunter, er hatte allerlei Geschenkpapier mit nah- und fernöstliches Mustern in Bögen oder Rollen, dazu Briefumschläge und -papier in Bütten und oft raffiniert gefüttert, außerdem allerlei Schreibutensilien, die besser in ein Museum gepaßt hätten. Dazu Stempel und Tinten in allen Farben. Schon die Hersteller-Schilder an den Tintenfässern kündeten von einer längst vergangenen Zeit. Ein findiger Vertreter hatte ihm irgendwann Hygienepapiere aufgeschwatzt, die sich nun auf der rechten Seite des Ladens recht grotesk von der übrigen Einrichtung abhoben. Vor Jahren hatte es einige Zeitlang durch Seuchenpanik einen Sturm auf Toilettenpapier gegeben, und drei Tage lang klingelte die Kasse so oft wie nie. Inzwischen bewegte sich von diesem Posten nur der Eigenbedarf der Bibliothek.
Wer dahintersteckte, weiß ich nicht, aber an einem sonnigen Maitag betrat ein fremder Mann den Buchbinder-Laden. Herr Gärtner vermutete die Gewerbeaufsicht und wurde auch im weiteren nicht über seinen Irrtum aufgeklärt. Die Aufsicht steht ja im Ruf, vornehmlich in öffentlichen Ladenlokalen die Sauberkeit der Toilettenanlagen zu inspizieren. Herr Gärtner führte die vermeintliche Amtsperson durch alle Räume und beantwortete höflich und geduldig alle Fragen. Zunächst schien sich der Mann besonders für die Geschenkpapiere zu interessieren, insbesondere fragte er Herrn Gärtner, ob er denn auch russische Muster im Sortiment habe. Als Herr Gärtner bedauernd verneinte, zog der der Fremde eine Rolle aus dem Regel, schlug einen Zoll um und meinte fachmännisch: »Chochloma mit saftigen Vogelbeeren!« Gleich griff er nach einer zweiten Rolle und fügte hinzu: »Und hier mit Vögeln und Zweigen.«
Die Papiere waren mit einer Goldbronze grundiert und darauf mit üppigem Dekor in Schwarz und Rot bedruckt. Daß diese Gestaltung an die aus Nischni Nowgorod stammende volkstümliche Malerei auf Möbeln und Alltagsgegenständen aus Holz erinnert und auch entfernt an die Ikonen, leuchtet ein, und Herr Gärtner wurde ernstlich verlegen, daß die Anspielung ihm als Papierkenner nicht aufgefallen war. Freilich hatte ihn auch noch niemals jemand nach russischem Geschenkpapier gefragt.
Nachdem der Fremde Herrn Gärtner gründlich verunsichert hatte, wandte er sich der rechten Seite des Ladens zu: »Sie verkaufen hier doch auch Hygieneartikel. Auch Damenbinden?«
Herr Gärtner war noch durch die erste Attacke so sprachlos, daß er geradeaus in die Gegend starrte. Der Fremde wartete eine Antwort nicht ab, schob ein paar Pakete zur Seite und zog dann mit einer vielsagenden Geste eine lila beblümte Großpackung mit der Aufschrift »Ultimativer Auslaufschutz« hervor.
Inzwischen hatte sich Herr Gärtner etwas gefangen und bemerkte: »In diesem Bereich bevorzugen meine Kunden die Selbstbedienung. Aus diesem Grunde habe ich mich damit eher weniger befaßt...«
Der Fremde, fast einen Kopf größer als Herr Gärtner, stellte sich nun unmittelbar vor diesen: »Die Tampons habe ich ja selber gefunden. Nun sagen Sie mir bitte noch, wo Sie die Präservative versteckt haben.«
»Ich verstecke nie etwas, schon gar nicht vor der amtlichen Kontrolle«, sagte Herr Gärtner mit schlecht unterdrückter Empörung, denn Unterstellungen mochte er ganz und gar nicht.
»Dann zeigen Sie mir jetzt die Präservative. Ich bin Kunde und möchte welche kaufen.«
Also doch keine Amtsperson. Herr Gärtner wurde mutiger und sagte nun ganz entschieden: »Da muß ich Sie enttäuschen. Ich habe keine – wie sagten Sie doch – Präservative. Ich weiß nicht einmal, was das sein soll.«
»Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes weismachen, Sie wüßten nicht, worum es sich bei Präservativen handelt! Präservative, Kondome, Frommser, Gummi! Oder, wenn Sie wollen, Lümmeltüten, Pariser, Präser, Überzieher, Verhüterli, Ficktüten, Lecklappen, Nahkampfsocken – wie deutlich muß ich noch werden?«
»Mein Herr, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wenn Sie keine anderen Wünsche haben, würde ich das Gespräch gern beenden.« Der Fremde schüttelte den Kopf und setzte dies fort, bis er den Laden verlassen hatte.
Wenige Tage später kam Frau Kaczyski ziemlich aufgeregt in mein Büro: »Wir sind wieder einmal in der Zeitung. Allerdings negativ!« Ich fragte: »Was denn? N-Wort? Schwubelei? Klima-Leugnung?« – »Schlimmer! Viel schlimmer!« – »Doch nicht etwa Puti... Machen Sie es nicht so spannend!« – »Der Herr Gärtner hat zu einem Journalisten gesagt, er wisse nicht, was Präservative seien.« – »Na und? Kann ich mir gut vorstellen. Der kommt doch gar nicht heraus aus seinem Laden.« – »Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch vorstellen, daß Herr Gärtner von solchen Dingen keine Ahnung hat. Aber warum muß er das ausplaudern? Das wird doch so ausgelegt, als sei er ein fundamentalistischer Verhütungsgegner.« – »Ich sage nur: Sommerloch! Die wissen nicht, was sie schreiben sollen, und so machen Sie den alten Mann zum Gespött. Ziemlich widerwärtig. Aber gefährlich? Eher nicht.«
Ich habe mich gründlich geirrt. Es blieb nicht bei einem peinlichen Witz. Erst kamen Leserbriefe, dann kam das Fernsehen. Schließlich wurde Herr Gärtner nach Berlin in eine Talkshow zur besten Sendezeit verfrachtet. Nachdem mir Frau Kaczynski davon berichtet hatte, sah ich die Show selbst mit Heinrich in der Mediathek des Internets.
Es war Herr Gärtner, wie wir ihn kennen, wie er immer war. Er hatte sogar im Studio seinen weißen Kittel an. Von den Lachsalven des Publikums und dem, was die anderen sagten, ließ er sich nicht beirren und wiederholte mit tiefem Ernst, als befände er sich in einem Gerichtssaal, er wisse wirklich und wahrhaftig nicht, worum es sich bei einem Präservativ handle und er gehöre keiner christlichen Sekte an. Zu den Vorwürfen, er befeuere die Überbevölkerung, er wolle den Hitzetod durch Klimakollaps, den Bürgerkrieg wegen Ressourcen-Knappheit äußerte er sich nicht. Schließlich überzeugte eine Sexual-Expertin im grünen Kleid die geladenen Parteienvertreter, man habe hier keinen verkappten Rechten, sondern eine humanitäre Katastrophe vor sich. Das Menschenrecht auf freie Sexualität sei dem Opfer vorenthalten worden, und ein besonderer Skandal sei, daß dies in einer deutschen Bildungseinrichtung geschehen sei. Es wurde Konsens, daß dieser besonders krasse Auswuchs patriarchalischer Unterdrückung einmal mehr beweise, wie alternativlos sexuelle Aufklärung und Erziehung bereits im frühen Kindesalter seien. Ort und Arbeitsplatz des Begutachteten wurden im Fernsehen nicht genannt, aber ich machte mir keine Illusionen. Als der Bürgermeister am nächsten Morgen in mein Büro kam, verhandelten wir ausschließlich über technische Fragen unserer Abwicklung.