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DER ESSAY

Im Jahre 2008 begann ich neben meinen Gedichten eine Reihe von Essays zu literarischen, philosophischen und zeitgeschichtlichen Themen zu schreiben. Diese Texte waren für mich zunächst eine Art Selbstverständigung, ein Ausgleich dafür, daß ich kein Tagebuch führe und Briefe im Zeitalter des elektronischen Austauschs nicht mehr dauerhaft vorliegen. Nachdem nun auch das zweite Buch mit solchen Arbeiten erschienen ist, will ich versuchen, diese Nebenwerke in die Tradition einzuordnen und einen Essay über literarische Essays zu schreiben, also einen, der seine Form zum Thema hat. Eine solche Nabelschau ist dem Wesen des Essays durchaus nicht zuwider, handelt es sich doch um einen luziden Spieler mit Form und Inhalt, man könnte sagen, um einen postmodernen Spieler. So wie eine Parodie nicht ohne große Ernsthaftigkeit möglich ist, das Pathos liebt und sich vorzüglich an die Dichter hängt, die Form und Inhalt in unverwechsbarer Weise prägen, so ist auch der Essay als merkurischer und manchmal parasitischer Wandersmann nicht ohne die Paläste der Autoritäten denkbar. Er kommt von der Glosse, einer Anmerkung zu nicht jedermann verständlichen Texten, die das aufarbeitende, kommentierende und veranschaulichende Mittelalter so reich gepflegt hat, und hat seine Eigenständigkeit in Abgrenzung zum stengen und laienfeindlichen Traktat entwickelt.
In den klassischen Gattungen der Literatur, Lyrik, Epik und Dramatik, findet der Essay keinen Platz. Auch dann nicht, wenn in diesen Gattungen der Vers aufgegeben wird und wir statt Oden Stimmungsbilder in Prosa, satt Dramen Novellen und statt Versepen Erzählungen sehen. Der Essay kommt von wissenschaftlichen Abhandlungen und von der politischen Rede und ist, dies soll gleich eingangs klargestellt werden, als Literatur unklassisch. Aber ihm ist das Klassische unverzichtbar, ja die Hochschätzung des Klassischen. Dies ist schon bei Erasmus von Rotterdam so, dessen Adagia, eine Sammlung und Kommentierung antiker Sprichwörter, Redewendungen und Redensarten, als Vorform der essayistischen Kunst angesehen werden können. Erasmus produzierte seine Sammlung, erst 818, dann 3260 und schließlich 4251 Adagia, mitten in Lärm und Getriebe der Druckerei Aldus Manutius in Venedig, deren Technik ihn außerordentlich begeisterte. Dies scheint mir eine Schlüsselszene: zum einen die große Nähe zu neuen Verbreitungs- und Mitteilungstechniken, zum anderen ein Kanon der Inhalte, die im wesentlichen mindestens tausend Jahre alt sind. Man weiß, daß Erasmus jede Art von Bildungsferne von Herzen verabscheute und überzeugt war, daß seine eigene Zeit dem Altertum in keiner Weise das Wasser reichen könne. Man könnte also sagen, daß er durchaus meinte, Perlen vor die Säue zu streuen. Wir sehen also schon ganz am Anfang den unauflöslichen Widerspruch von Mitteilungs- und Verbreitungsdrang und tiefer Skepsis gegenüber angemessenen Folgen.
Weil Erasmus' Adagia in allen europäischen Kulturen ausgebiebig rezipiert wurden, sind uns auch heute noch Maximen wie etwa, daß steter Tropfen den Stein höhle, oder, daß Unkraut nicht verderbe, geläufig. Das Sprichwörtliche, die Lebensregel teilt der Essay mit dem Aphorismus, freilich ohne den Zwang zur Kürze und äußersten Prägnanz. Als Gattung tritt der Essay zuerst bei Michel de Montaigne auf. Was einst Spruch und Weisheit war, wird nun mit Kommentaren und Kritik versehen, primäre Aussage und sekundäre Auslegung durchdringen sich in dieser Form. Mit dieser Entgrenzung wird auch bereits eine Gefahr deutlich, die unverbindliche Plauderei, die eitle Spielerei und die polyglotte Geschwätzigkeit. Der Essay als Unform läßt vielfältige Exkurse zu: Autobiographisches, Anekdotisches, polemisch gesprochen: Klatsch und Tratsch. Mit dem aufkommenden Zeitungsweisen begründet er die Kolumne, eine Form, die keinem anderen Gesetz verpflichtet ist als der obligatorischen Länge, welche die Spalte bestimmt. Bemühmte Zeitungen verwandten dieses Mittel zur Kundenbindung, und bis heute wird dieses tägliche oder wöchtenliche Allerlei macher Autoren in Büchern gesammelt.
Der Essay im allgemeinen hat jedoch nicht einmal das Korsett eines festen Umfangs. Was macht dann überhaupt seinen Reiz aus? Das ist zunächst seine Methode. Sie stellt eine experimentelle Art dar, sich dem Thema zu nähern und es aus wechselnden Perspektiven zu beleuchten. Dabei besteht der Schwerpunkt nicht im Gegenstand der Überlegungen selbst, sondern in der Entwicklung der Gedanken. Wir haben hier eine starke Einbindung des Lesers, der dazu gebracht wird, selber die Schlußfolgerungen der Argumentation zu ziehen. Dazu gibt sich der Autor oft das Kleid eines Freundes oder eines unvoreingenommenen Ratgebers. Erfolgreich hat sich eine gewisse Leichtigkeit erwiesen, die freilich die stilistische Ausgefeiltheit zu zeitweise tarnt. Fußnoten und wissenschaftlichen Apparat meidet der Essayist, um den Rezipienten nicht zu verschrecken, sondern besser zu verführen. Manchmal werden provokative Thesen zunächst in den Raum gestellt, um im Windschatten der Empörung den Leser gerade zu dieser These, wenn nicht gar zu einer noch schäfer zugespitzten gelinde hinzuführen. Der Essayist plaudert wie zufällig, hat jedoch den Gesamteffekt sicher im Blick.
Um zu überzeugen, muß der Essay im Gedenken scharf und im Stil geschmeidig sein. Die Geschmeidigkeit darf jedoch nicht auf Kosten der Klarheit erzielt werden. Das heißt, die Sätze und Gedankengänge müssen sehr verständlich sein, auch wenn die Absicht dieser Gedankengänge teilweise verborgen bleibt. Witz und Originalität sind vernöten, denn billige Überrumpelungsrezepte bewirken im allgemeinen das Gegenteil des Angstrebten. Der Essayist betreibt einigen Aufwand, um bei Leser Vertrauen zu erwecken, dies wird natürlich verdorben, wenn der Leser die Schmeichelei durchschaut. Wie in der Literatur im allgemeinen und wie in der Erotik kommt es allem auf das rechte Maß an.
Insbesondere muß der Leser bei der Lektüre das Gefühl haben, das Unsystematische und vielleicht Bruchstückhafte der Abhandlung sei nicht ein Mangel, sondern des besondere Kunststück. Dazu dient ein dialektischer Aufbau, eine Komposition, die alles scheinbar Zufällige im nachhinein rechtfertigt und als notwendig ausweist. Im guten Essay wird der Leser verführt, aber ohne Kater: Er ist nicht verärgert, wenn er das Geflecht durchschaut, im Gegenteil, er beugt sich dem souveränen Geist, der ihm die Erkenntnis mit Genuß vermittelt hat.
Nach diesem Hohelied fehle aber nicht ein ernüchternder Schluß: Der Essay bleibt zurecht aus dem klassischen Kanon ausgeschlossen, weil er wie Hermes seine Kunststücke nicht ohne Jupiter ausführen kann. Sonst gleicht er einem Brautvermittler ohne Braut. Der Essay kann dem Autor manches Türchen öffnen, aber er bleibt der Diener eines dahinterstehenden Werkes. Wer nichts zu offenbaren, nichts zu verstricken und nichts zu erzählen hat, der wird mit diesem Kunstgriff seinen Mangel an Substanz nur schlecht bemänteln können. Die Unform der Literatur ist nicht etwa ein Ersatz für Lyrik, Dramatik und Epik, sondern immer nur ein Verführer, sich der Strenge des Klassischen zu stellen.