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BARMHERZIGKEIT

Es muß nachts gegen zwei gewesen sein. Ich war am Formatieren eines neuen Buches, und, wie oft, fiel es mir schwer, damit aufzuhören. Einen unregelmäßigen Tagesablauf begünstigt es, daß ich hier in völliger Einsamkeit lebe. Tagsüber treiben sich auf dem Grundstück noch die Mitarbeiter einer Firma herum, die ein Gebäude von uns gemietet hat. Mit denen habe ich wenig zu tun, und ich ärgere mich nur immer über die vielen Automobile, die mir wie überall lästig und widerwärtig sind. Außerdem gibt es auf dem Grundstück eine wohl wild lebende Katze, die ein mehrere Hektar großes Areal als ihr Revier betrachtet. Sie kommt täglich vorbei und schaut in alle Bereiche, wie man im Winter an den Spuren im Schnee sehen kann. Einmal stahl sie mir ein halbes Pfund rohes Hackfleisch, das ich nur leicht verpackt im frostkalten Lager liegen ließ. Butter mag sie auch, aber hier weiß sie die Maße zu wahren. Vor Menschen ist sie ausgesprochen scheu, ich sah sie immer nur am Horizont fortflitzen. Nur einmal in zwei Jahren ließ sie mich bis auf sechs Meter herankommen. Die automobilisierten Nutzer des Grundstücks hatten, wie sich am nächsten Tage herausstellte, von der Existenz dieser Katze nie etwas bemerkt.
Ich schaltete den Rechner aus, um mich in mein Schlafgemach zu begeben. Das ist nicht so simpel wie es klingt. Während ich dichte und verlege, verwildert das Grundstück, das wir uns vor vier Jahren zugelegt haben. Da ich von München hohe Schulden mitbrachte und auch der Umzug eine hübsche Stange Geld kostete, konnte bislang auch niemand für Instandsetzung und Unterhalt der Gebäude und Außenanlagen eingestellt werden. Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, daß die Forderungen eines hektargroßen Anwesens mit vielen Gebäuden nebenberuflich nicht zu stemmen sind, dann geschieht es auch leicht, daß man selbst jenes unterläßt, was durchaus zu schaffen und dabei höchst nützlich und erleichternd wäre. So gibt es auf dem langen Wege zum Bett keinerlei Beleuchtung, und der Weg verschwindet auch immer mehr zwischen mannshohem Gras und Büschen.
Die Nacht war nicht mondlos, und der Weg also nicht schwierig. Eine laue Maiennacht, und ich war durchaus in guter Laune. Als ich die Treppe zur Wohnung gestiegen war und die Tür öffnen wollte, hörte ich den Schrei eines Tieres. Ich wendete mich um, und lauschte in die Nacht. Der Platz vor dem Haus ist von einer mächtigen Birke beschattet, und also besonders dunkel. Ich sah die Dunkelheit und begriff, daß es völlig aussichtslos war, dem Schrei nachzugehen und zu schauen, was wo geschehen sei. Ich wandte mich ab und wollte die Tür öffnen. Aber da hörte ich einen zweiten Schrei, und es war, als ob eine Macht von mir Besitz ergriff. Ich ging wie in Trance die Treppe hinab und durch das hohe Gras auf die Büsche zu. Das Nachtwandlerische meines Handelns ist mir so gut in Erinnerung, weil ich Zigaretten und Streichhölzer in der Hand trug, und diese nicht etwa ablegte, obwohl mir diese für eine wie immer geartete Unternehmung sehr im Wege sein mußten.
Ich schritt auf den mit Büschen bewachsenen Damm zu, dessen Umrisse ich erkennen konnte. Ich hörte ein erneutes Klagen und gleichzeig Plätschern von Wasser. Nun war mir die Sachlage klar. Hinter dem Damm befand sich ein Feuerlöschteich, den der ehemalige Grundstückseigentümer, der hier seine Firma zur Bienenzuchtgeräteherstellung und auch seine Privatwohnung hatte, zu einem Schwimmbad umgebaut hatte, mit Sprungbrett und Rutsche. In der Nachkriegszeit muß dies eine Jugend-Attraktion in unserer Kleinstadt gewesen sein. Bis zum Ende der DDR nutzten die Arbeiter des inzwischen verstaatlichten Betriebes das Becken und hielten es sorgsam instand. Vor einiger Zeit erfuhr ich, daß die Familie, die bis zur Jahrtausendwende noch die Räume bewohnte, darin ich nun meine Nächte verbringe, das Becken weiterhin sauber und nutzbar gehalten hatte. Freilich war dies nicht mehr wie zu DDR-Zeiten bloß Arbeitsaufwand, sondern nun auch mit erheblichen Kosten verbunden. Als wir das Grundstück kauften, war das Schwimmbadwasser bereits dicht von Algen bedeckt, dazwischen schwamm mancherlei Unrat und auch ein totes Tier. Freilich fand mein Freund Wolfgang, als wir ihm den Morast mit dem Kadaver präsentierten eine seltene Blüte und tat den, vielleicht prophetischen, Ausspruch: »Ein Ort, wo diese Pflanze gedeiht, kann kein ganz heilloser sein.« Es war immer ausgemacht, daß das Schwimmbad erst an die Reihe käme, wenn andere Dinge ins Lot gebracht wären.
Um zum Ausgangpunkt zurückzukehren: Die Katze war in das Schwimmbad gefallen und schrie um ihr Leben. Ich versuchte in dem Gestrüpp den Aufgang zum Becken zu finden, aber das war unmöglich. Schließlich schwang ich mich, nachdem die Schreie in meiner unmittelbaren Nähe zu hören waren, auf den Damm hoch in das Gestrüpp. Dabei muß ich mich in der Entfernung verschätzt oder einfach zu viel Schwung gehabt haben, jedenfalls fiel ich direkt ins Wasser. Das erste, was ich unter Wasser tat, war, meine Zigaretten und Streichhölzer loszulassen, denn es stand außer Frage, daß sie verdorben seien. Dann krallte ich mich an den Rand des Beckens und versuchte, dort wieder herauszukommen, wo ich hereingefallen war. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich die Katze in dieser Panik vollkommen vergessen hatte. Ich wollte aus diesem Sud, der mir immer wie ein Moor erschienen war und sich mir mit Fliegen und Verwesung assoziierte. Mir war nicht bekannt, daß Schwimmbecken allgemein mit schrägem Boden angelegt werden, und ich mich am tiefsten und damit ungüstigsten Punkt befand. Der schmale Rand reichte als Hebel nicht hin, sich herauszuhieven und auch die überhängenden Gestrüppäste stellten keine Hilfe dar. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte mich hochzustemmen, allein, die Kraft reichte nicht hin. Mir kamen trübe Gedanken. Sollte ich in diesem Sumpfloch ertrinken? Während ich vor Erschöpfung innehielt, bemerkte ich, daß ich Grund hatte, also stehen konnte, was ich vorher, an den Rand gekrallt, gar nicht bemerkt hatte. Damit wurde mir klar, daß ich Zeit hatte, einen Ausweg zu ersinnen und ich den auch finden würde. Nun hörte ich wieder die Katze und ging auf sie zu. Sie lag völlig steif und hielt sich offenbar auf diese Weise über Wasser. Ich nahm sie mit beiden Händen und warf sie vorsichtig ans Ufer. Nachdem ich eine ganze Weile schon nichts mehr von ihr gehört hatte, war ich mir nicht sicher, ob sie noch lebte oder während meiner Panik ertrunken sei. Erst bei Sonnenlicht konnte ich sehen, daß sie umgehend Reißaus genommen hatte.
Ich lief durch das Becken zur gegenüberliegenden Seite, wo sich die Rutsche befand. An dem überstehenden Metallgestänge ließ es sich sicher gut hochziehen, und so war es auch, ich machte mich durch die Büsche, umlief den Ort weiträumig und suchte zunächst das Badezimmer auf. Darüber, daß die Algen den Abfluß verstopfen könnten, machte ich mir keine Gedanken, als ich mich in voller Montur duschte. Ich hatte zwei Stunden vorher Feuer gemacht, und nun schob ich den Kleiderständer neben den Ofen und hängte die durchnäßten Sachen auf. Nachdem ich frische Wäsche trug, ging ich über dsen Hof ins Büro, um Hilke anzurufen und ihr von meinem Abenteuer zu erzählen.
Bereits beim Duschen hatte ich festgestellt, daß mein Geldbeutel mit Barschaft, Ausweis und diversen Magnetkarten bei dem unfreiwilligen Bad abhanden gekommen war. Offenbar war er beim vergeblichen Ringen mit der Beckenmauer aus der Hose gerutscht. Am nächsten Tag begann ich das Becken auszupumpen. Die Wassermenge war so groß, daß dies bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht geschafft wurde. Ich konnte also erst am dritten Tage mit Gummistiefeln in den Schlick steigen und nach dem Verlorenen suchen. Nach einer halben Stunde hatte ich im Umkreis von zwei Metern um die Stelle meines Sturzes allen Schlick mit der Schaufel angehoben und unter wachsamem Blick wieder herunterrieseln lassen. Steine, Äste, Baumrinde -- aber kein erdbaunes Leder. Dann suchte ich die Stelle ab, wo ich das Becken mit Hilfe der Rutsche verlassen hatte. Dann die Büsche auf dem Hin- und auf dem Rückweg. Schließlich stieg ich ein zweites Mal ins Becken und wiederholte die Übung.
Der Geldbeutel mußte sich sehr weit vom Ort des Herausrutschens fortbewegt haben. Eine Komplett-Entleerung des Beckens hätte zumindest die Anlage eines Anfahrtsweges für eine Schubkarre zur Voraussetzung gehabt. Diesen Aufwand konnte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten. Ich ging ins Büro und fing an, telephonisch neue Magnetkarten anzufordern. Dabei fiel mir die Zigarettenschachtel wieder ein. Im Gegensatz zu dem braunen Geldbeutel, der sich farblich kaum von dem Schlick unterschied, war diese in leuchtendem Weiß und Rot gestaltet. Wenn mir diese nicht vor Augen gekommen war, konnte ich einfach nicht gründlich genug gesucht haben. Ich überlegte mir, daß diese doch recht leichten Gegenstände sich vielleicht unter dem Sog der Pumpe an die Absaugstelle bewegt haben könnten. Ich stieg ein drittes Mal ins Becken und suchte mit neuen Prämissen. Es blieb erfolglos.
Nachdem ich nun ohne Ausweis und Geld war, konnte es nicht ausbleiben, daß ich einigen Leuten von dem Vorfall berichtete. Die Reaktionen gaben mir zu denken und veranlaßten mich schließlich, diesen Bericht zu schreiben. Im allgemeinen bewegten sich die Äußerungen zwischen »Du bist unter die Tierliebhaber gegangen« und »Etwas teuer für eine Katze«. Der entscheidende Punkt in der Geschichte, nämlich der Notschrei, schien den meisten wenig zu sagen. Ich wurde auch gerügt, keine Taschenlampe parat gehabt zu haben. Dem muß ich freilich entgegnen, daß ich mit einer Lampe sehr wohl den Aufstieg zum Becken gefunden hätte und nicht hineingeplumpst wäre. Allerdings hätte ich denn im Lichtkegel gesehen, daß das Ufer so überwachsen war, daß keine Möglichkeit bestand, zu der Stelle zu gelangen, an der sich die Katze befand. Es hätte sich mir klargestellt, daß man ins Wasser steigen müsse, um die Katze zu retten. Nachdem meine Vorstellungen von diesem Tümpel weit unangenehmer waren, als sich dann die Realität herausstellte, hätte ich dieses Opfer wohl nicht gebracht. Es war also die Rettung der Katze, daß ich ohne Lampe, ohne klare Kenntnis der Verhältnisse, ohne Orientierung war.
Ich muß es ganz deutlich betonen: Ich bin kein Vegetarier oder sonst besonders sentimental, was die Grausamkeit der Welt betrifft. Leute, die kein Blut sehen können, haben mich immer amüsiert. Auch empfinde keine besondere Zärtlichkeit für Katzen, von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen. Wenn ich die Katze rettete und mich damit in Bedrängnis brachte, dann wegen dem Notschrei, der alle Reflexion auslöschte und eine tiefere Ebene berührte, als die gewöhnliche Abwägung von Gut und Böse. Mir machte die Angelegenheit bewußt, daß Barmherzigkeit und überhaupt das Erbarmen in einer vor- und außermoralischen Ebene siedeln. Moralisches Handeln ist eine Anstrengung des Willens und des Intellekts. Gut-gemeint ist oft das Gegenteil von gut. Der moralisch Handelnde ist nicht blind. Insofern war die Rettung ganz und gar keine »gute Tat«. Sie geschah nicht reif und bewußt, sondern kindlich und instinktiv. Nicht aufgrund von Läuterung oder Selbstzucht, sondern als reine Gnade. Ich war nicht aktiv tätig, sondern geradezu ein Medium, selbst passiv und hingegeben an etwas, das durch mich tat. Und gerade das Unverdiente dieser Erfahrung gibt mit ein tiefes Gefühl des Bewahrt- und Nicht-verloren-Seins.
Es ist eigentlich nicht meine Art, in jedem Mißgeschick das Gute zu sehen, das es wider alle Absicht gebracht hat. Es ist auch nicht meine Art, das Passive, Kindliche, Unbewußte gegenüber dem Aktiven, Männlichen, Überlegten zu preisen. Aber in diesem Falle kam mir niemals der Gedanke, die Sache könne sich nicht gelohnt haben. Ich schlief eine Nacht schlecht, weil ich fürchtete, die Katze könne in den Minuten meiner panischen Selbstrettungsversuche ertrunken sein. Als ich entdeckte, daß sie entkommen war, fühlte ich mich beschenkt, und so ist es auch heute noch. Irgendwann werde ich die Börse wiederfinden, und es ist fraglich, ob die Geldscheine dann noch Gültigkeit und nennenswerte Kaufkraft besitzen. Die Katze kann schon am nächsten Tag bei anderer Gelegenheit verunglückt sein, ich sie seit jener Nacht nicht wieder und kann nur vermuten, daß den Ort einer schrecklichen Erfahrung meidet. Wie es sich mit all diesen Dingen auch verhalte, mir hat jene Nacht eine wichtige Erfahrung geschenkt, die Erfahrung, daß mir Barmherzigkeit gegeben wurde, die einen Notschrei nicht ignorieren kann.
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