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Lieder des Prinzen Vogelfrei

I

Am Schluß meiner Aufsatzreihe zu deutschen Literatur und meiner Stellung in dieser sei des Denkers gedacht, der mich als Mensch und Dichter wie kein zweiter prägte. Diese Prägung ist ein Prozeß, der keineswegs abgeschlossen ist. Gute Lieratur im Allgemeinen und Nietzsche im Besonderen eignen sich für jeden Leser und Suchenden immer wieder zu Spiegeln, zu Entdeckungsfahrten zu sich selbst und in die Reiche des Geistes. Es gibt Autoren und Bücher, mit denen man irgendwann fertig ist, Probleme und Fragestellungen, man irgendwann mit gültigem Urteil abschließt. Es handelt sich um begrenzte Welten und Horizonte. Jenseits davon beginnt das eigentliche Abenteuer des Geistes, und dies ist die Beschäftigung mit Autoren, denen man im Laufe des Lebens immer neue Aspekte und Verheißungen abgewinnt. Nietzsche tritt immer wieder gerade mit diesem Anspruch auf. »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt«, heißt sein Leitspruch. So eignet auch der nachstehenden Annäherung das Prädikat des Vorläufigen, Widerruflichen und Bruckstückhaften, des Splitters aus einem geistigen Kosmos.
Es gibt viele gute und viele schlechte Bücher über Nietzsche. Das Thema ist reizvoll und gleichzeitig voller Gefahr. Denn auch berühmte Leute haben sich mit Büchern, Aufsätzen oder auch nur Aphorismen zu Nietzsche gnadenlos blamiert. Das Thema eignet sich wie kein anderes, Blößen zu offenbaren, das Limit des eigenen Denkens an diesem Titanen offenbar werden zu lassen. Dieser Klippen bin ich mir nur zu bewußt, und so habe ich auch dreißig Jahre lang zu diesem Denker geschwiegen. Allerdings zeugt nicht nur das für oder gegen uns, was wir veröffentlichen, sondern auch das, was wir meiden und verschweigen. Draum will ich nun auch diesen Stier bei den Hörnern packen.
Nietzsche wird häufig als Dichter-Philosoph apostrophiert. Dies geschieht oft mit einer leichten Abwertung, bei der man sich gar noch auf mancherlei Spott Nietzsches über die Dichter berufen kann. Dem ist zu entgegnen, daß Nietzsches Spott nicht minder den Denker oder Philosophen trifft, daß Nietzsche überhaupt jede Rolle und Daseinsweise verspottet, in die man ihn einordnen könnte oder die er zumindest zeitweilig einnimmt. »Abgesehen davon, daß ich ein décadence bin, bin ich auch sein Gegenteil.« Diese fundamtentale Selbstkritik darf bei keiner Aussage zu Nietzsches Gedanken fehlen.
Leute, die Nietzsche als Dichter-Philosophen abtun, attestieren ihm gemeinhin eine Art Blendwerk, er nutze Metaphern und weiche damit der Strenge der tradierten Termini auf, um die Widersprüchlichkeit seines Denkens und seine Ratlosigkeit in den aufgeworfenen Fragen zu verschleiern, er philosophiere in »Aphorimen«, da ihm die Kraft zu einem schlüssigen System fehle, weil sein Denken nicht geschlossen sondern splitterhaft und unystematisch wäre. Dies heißt im Grunde, er stammle wie die Pythia auf ihrem Dreifuß. Dieses Urteil stammt aus einem sehr geringen Verständnis von Nietzsches Werk. Es wird ihm freilich schon editorisch Vorschub geleistet, wenn man jeden Notizettel aus Nietzsches Wanderleben den ausgefeilten und bei jeder Auflage noch einem neu bevorworteten Werken gleichwertig zur Seite stellt. Wenn man diese Sicherweise ablehnt, wird auch klar, daß der ganze Streit um den Nachlaß und die Arbeit des Nietzsche-Archivs von Nietzsches Schwester, die Nietzsche-Kritik auf einen Nebenschauplatz verlagert. Zweifellos hat Nietzsche große Pläne gehabt, die der Zusammenbruch verhinderte. Jeder Versuch, diese Pläne zu rekonstruieren, ist jedoch scharf abzulehnen, wenn dahinter die Absicht steht, das selbst veröffentliche Werk zu einer Art Vorarbeit zu degadieren.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte ich ein paar Argumente gegen diese Einordnung als »Dichter-Philosophie« vortragen. Es gibt in Nietzsches Werk durchaus Passagen, in denen er in die Rolle der Pythia schlüpft, also Seinsweisen annimmt, die dem rationalen Diskurs geradezu Hohn sprechen. Dies zeigt aber gerade nicht das Splitterhafte seiner Philosophie, sondern ist Teil seiner Versuche, den Horizont des Denkens zu erweitern. Nietzsche wirft ja gerade der tradierten Philosophie vor, sie habe den Kanon des Beachtenswerten mit einer Mauer aus Begriffen eingehegt und alles ausgesperrt, was sich diesen Begriffen nicht fügt. Dies sind vor allem die Leiblichkeit und überhaupt das Bewußtseins des Denkers als Naturwesen, der Instinkt und die Sinne des Riechens, Tastens und des Gleichgewichtes und, besonders peinlich für den sich autonom gebenden Denker, die Motivation des Denkers, überhaupt und gerade so zu denken. Wenn Nietzsche also versucht, diese Systemeinwände in sein System zu integrieren, ist es geradezu verleumderisch, aus der gebrochenen Darstellung eine gebrochene Sichtweise zu folgern. Nietzsches Welterklärung ist streng monistisch, sein zentrales Prinzip wird mit »Ewige Wiederkunft« oder »Wille zur Macht« bezeichnet. Insofern leistet er, was vom Philosophen gemein erwartet wird. Er bietet zum eigenen System aber auch Kritik und Metakritik. Nietzsche ist gerade deshalb in den letzten hundert Jahren von so vielen und so unterschiedlichen Geistern rezipiert worden, weil sein Philosophieren sich eben nicht in einem System erschöpft, was man, wie Nietzsche durchaus einräumt, auch ablehnen oder widerlegen kann, sondern dem Denkenden Methoden gibt, seinen Horizont fortwährend zu erweitern und die Welt in einer Weise denkerisch zu druchdringen, daß ein Selbstfangensein in Zirkenschlüssen ausgeschlossen ist.

II

In Abgrenzung zum abschätzigen Begriff einer »Dichter-Philosphie«, möchte ich nachstehend einen positiven Begriff der Dichter-Philosophie entwickeln und Nietzsche in diese Kunst einordnen. Diese Begriffsentwicklung wird nötig, weil zeigenössiche Verstellung in »Kunst« und »Wissenschaft« nicht zwei Aspekte derselben Geistigkeit sehen, sonder völlig getrennte Felder, etwa die Wissenschaft als poesiefreie Welt der harten Tatsachen, Kunst hingegen als unverbindlichen Schmuck des Daseins. Dies ist eine Verzeichnung des einen wie des anderen. Ich will dies am Beispiel von medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Kunst illustrieren. Wer nicht gerade der abseitigen Auffassung anängt, bei der »Schulmedizin« handle es sich um eine Sammelsurium bornierter Irrlehren, wird mit zustimmen, daß medizinsche Wissenschaft und ärzliche Kunst außerordentlich viel mit einander zu tun haben. Dies erleichtert den Blick auf die Differenz: Die Wissenschaft richtet den Blick auf das Allgemeine, das Wiederholbare, auf verläßliche Methoden der Diagnostik und Therapie, auf Rahmenbedingungen, in denen der Arzt mit begründeter Erfolgsaussicht agieren kann. Die Kunst hingegen richtet sich auf die konkrete Heilung eines konkreten und unwiederholbaren Patienten in einer unwiederholbaren Situation. Es ist nicht die Absicht des Arztes, Theorien zu beweisen oder zu wiederlegen, es sei denn, er handle dem Ethos seines Berufes völlig zuwider. Der Arzt weiß, was die Wissenschaft leistet und was nicht, er vertraut ihr, aber nicht unbedingt. Hinzu kommen Momente der Intuition, der Identifikation, der Symbolik, man spricht von Unwägbarkeiten. Die Waage aber als Markenzeichen der Quantifizierung und Mathematisierung der Wissenschaft wird mit dem Begriff des Unwägbaren geradezu ausgesperrt. Um Erfolg in der Sache zu haben, werden schon immer in der ärztlichen Kunst »alternative« Wege beschritten, also Denkmuster bemüht, die eher an die Magie erinnern als an die moderne Wissenschaft. Kunst ist so gerade das Lavieren zwischem gesichtertem und unverbürgtem Wissen. Da auch die strengsten Sittenwächter der Wissenschaftlichkeit einräumen müssen, daß die Menge des Gewußten immer endlich bleiben und einem unendlich großen Nicht-Gewußten gegenüberstehen wird, bleibt die Kunst als Weg an der Grenze unentbehrlich für alles Zeiten.
Es gibt große Bereiche des Menschlichen, zu denen die Wissenschaft wenig oder gar keinen Zugang hat. Dies sind vor allem die Spären des Glücks, des Eros, des Heils. Niemand möchte diese Spären geringer schätzen, nur deswegen, weil die Wissenschaft hier so wenig Erfolg hat. Es ist eine Verzeichnung, zu meinen, die Kunst weiche auf Randbereiche aus. Gerade bei der Betrachtung der antiken Kunst können wir feststellen, daß sich die Kunst schon immer und dies ganz unabhäng vom Stand der Wissenschaft um genau die gleichen Felder bemüht hat, auf denen sie auch heute fruchtbar ist. Insofern ist es falsch zu meinen, die Wissenschaft enge die Kunst in irgendeiner Weise ein. Ihr unendlicher Vorrat wird durch endliche Abflüsse nicht vermindert.
Aus dem Gesagten folgt, daß jede Philophie, die sich nicht wie die Mathematik in einen selbstdefinierten Begriffsfeld erschöpft, sondern den Anspruch erhebt, menschliche Fragen und Sehnsüchte zu erklären und Antwort auf die Frage zu geben, wie man denn leben solle, nicht nur Wissenschaft sein kann, sondern auch Kunst sein muß. Sprachkunst wird allgemein als Dichtung bezeichnet. Damit wird evident, daß Philosopie gerade zur Dichtung eine große Affinität hat.
Bei Nietzsche kommt hinzu, daß er nicht nur wie bespielsweise Heidegger, Worte der Dichter wie Hölderlin nach philosophischer Substanz untersucht, sondern selbst als Dichter auftritt und Verswerke verfaßt. Wie diese Versewerke in das Gesamtkonzert nietzischer Philosophie einzuordnen seien, ist Thema dieser Untersuchung, sowie außerdem die Frage, was diese bis dahin unerhörte Berührung von Dichtung und Philosophie für die Dichtung nach Nietzsche bedeutet.
Nachdem ich eingangs einräumte, daß Nietzsche mich auch als Dichter außerordentlich geprägt habe, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich dem vorschnellen Schlusse widersprechen, Nietzsche habe mich durch seine Gedichte oder durch seine Philosophie der Dichtung geprägt. Beides steht in meiner Nietzsche-Rezeption eher am Rande. Stilistisch bin ich Nietzsches Gedichten sehr wenig verwandt. Auch ein Künstler-Ethos, das mancher aus Nietzsches Werken ennimmt, ist nicht konstitutiv für meine Verse. Ich danke Nietzsche außerodentlich viel, aber nicht das Dichten im eigentlichen Sinne.

III

Nimmt man Nietzsches »Lieder des Prinzen Vogelfrei« zur Hand, so fällt einem zunächst der ansprechende, man würde heute sagen: verkaufsstarke, Titel auf. Hier werden auf prägnante Weise eine Fülle von Assoziationen vereint, hier wird eine Neugier geschürt, die man als geistige Verführung bezeichnen muß. Man sollte bei der Lektüre von Nietzsches Werken niemals übersehen, daß Nietzsche von Jugend an mit seinem Denken wirken wollte, nicht im akademischen Kreise, sondern in einer Welt, die er als sehr viel größer begriff. Insofern lockt er ein Publikum, dem der Kontext seiner Schriften in vielfältiger Weise fehlt. Diese »Demokratisierung« zeigt sich auch in der Sprache des Neuen Testaments, in der das Buch »Also sprach Zarathustra« abgefaßt ist. So wird dem Anfänger im philosophischen Denken geschmeichelt, er wird mit faszinierenden Gedanken befaßt, ohne ihm darzutun, daß ihm für derlei Dinge im Grunde alle Voraussetzungen fehlen. Dies führte zu einer großen Popularität bei der Jugend, gerade bei den Feldpostausgaben des ersten Weltkriegs. Daß dabei grobe Mißverständnisse nicht ausbleiben können, liegt auf der Hand. Nietzsche nimmt dies billigend in Kauf. Im erscheint das abendländische Denken erstarrt, um die Kuste aufzusprechen, bedarf es des Mutes, Verluste hinzunehmen.
Im Wort »vogelfrei« sind wie so oft bei Nietzsche zwei konträre Erfahrungswelten vereint. Da ist zum einen die mittelalterliche Ächtung, die Nietzsche begründet in Anspruch nimmt, denn er ist ja bereits seit der »Geburt der Tragöide« wissenschaftlich als Spinner erledigt und aus der akademischen Welt ausgestoßen. Neben der Ächtung liegt aber in dem Wort auch die Bedeutung, die ihm die Romantik gab. Hier steht »vogelfrei« für den Ausbruch aus Zunft- und Fronzwängen, aus dem bügerlichen Alltag, aus dem tradierten Sittenkodex. Der Vogelfreie traut sich wahrer Mensch zu sein, was sich im Grunde alle wünschen. Die Kombination des Wortes »vogelfrei« mit »Prinz« ist eine nietzschische Singularität, denn ein Prinz als Angehöriger eines Adelshauses ist in der Regel weder ein geächteter Verbrecher noch ein palastmüder Aussteiger. Im »Prinzen« kommen ganz andere Dinge zusammen: die hohe Geburt, das Aristokratische, mit einer Unreife, die ihm Handlungsmöglichkeiten nimmt und zugleich die Verantwortung für sein Handeln. Der Titel ist kennzeichnend für die Art wie sich Nietzsche in die Hierarchie und in die Tradition aber zugleich jenseits von beiden stellt.
Es beginnt mit dem Tanzlied »An den Mistral«. Der Tanz ist in Nietzsches Büchern präsent wie in keinem anderen philosophischen Werk. Er steht für das Aktive, Rausch- und Instinkthafte, für die Dominanz des Rhythmus, er steht als Gegensatz zur Kontemplation. Dies ist bereits ein wesentliches Vorzeichen, hier soll keine Spekulation betrieben und abgewogen werden, hier stürzt sich der Denker in ein Treiben, dessen Ausgang offen ist. Der Mistral ist ein Wind im Mittelmeerraum, der freundlich anhebt, sich aber dann durch den Düseneffekt der Alpen und Pyrenäen zu zerstörerischen Windgeschwindigkeiten steigern kann. Zudem führt er oft zur Austrocknung und zu Waldbränden. Im Gedicht erscheint der Wind anfangs wie ein Frühlingsbote, er nimmt Trübsal und verkündet die Freiheit. Dann steigert es sich, verkürzt sich zum Pfeil, die Metapher der Waffe zeigt das Ende der Harmloskeit an. Dann verfielfältigen sich Tanz und Wind, die Forderungen lauten, die Kunst solle frei sein, die Wissenschaft fröhlich. Die Forderung von der Freiheit der Kunst erinnert an Schiller, ich möchte da auf meinen Aufsatz »Über das Pathetische« verweisen. Die Forderung nach einer »fröhlichen« Wissenschaft ist neu, und obgleich diese Forderung ja auch ein Buchtitel von Nietzsche ist, wurde sie nach meinem Eindruck bislang allenfalls fachintern diskutiert. Eine fröhliche Wissenschaft ist jedoch nicht nur eine fröhliche Philosphie oder gar eine Philosophie des Frohsinns.
Daß die Fröhlichkeit der Moderne abhanden gekommen sei, wird nicht nur bei Nietzsche beklagt. Wir wissen, daß die Arbeit, die Religion und eben auch die Wissenschaft ihre Fröhlichkeit eingebüßt haben, und wir nennen dies die Entfremdung. Frohschaffen, Frohglauben und Frohwissen scheinen uns abhanden gekommen zu sein wie der Garten Eden. Und überall dort, wo man Freude zurückkehren will, wie etwa im modernen oder alternativen Schulwesen, versucht man dies, indem man die Sache selbst also den Ernst, im Schulwesen also den Lehrstoff bzw. die Bildung, auf ein Minimum zurückfährt und schließlich zur Farce verkommen läßt. Sind Frohsinn und Ernst einander ausschließende Dinge? Ist der frohe Tänzer jener, der auf die Mühe verzichtet, die Beine zu erheben? Oder gar jener, der sie so schwingt, daß er die Gefahr des Stolperns nicht mehr wahrnehmen kann?
Wir wissen längst um die Janusköpfigkeit der Vernunft. Haben sich früher die Menschen mit Knochenarbeit die Glieder ruiniert, so enfand man Maschinen, die diese Geißel erledigten. Allerdings führte die Bewegungsarmut zu Verfettungskrankheiten, weshalb dann wieder der Sport als Ausgleich propagiert wurde. Der moderne Mensch benutzt für jeden Besorgungsgang das Automobil, um dann täglich eine Stunde lang beim Jogging auf Asphalt seine Kniegelenke zu ruinieren. Deutlich wird, daß ein Problem widervernünftig weitergeschoben wird, aus der Arbeit in die Freizeit und dann in die Medizin. Frohschaffen heißt jedoch nicht, vor den Härten der Arbeit auszuweichen, sondern gerade ihnen Lust abzugewinnen.
Auf die Wissenschaft bezogen, heißt dies, daß eine solche niemals fröhlich sein kann, wenn sie ein Magd von Interessen ist, ein hinzunehmender Aufwand für den Nutzen, die ihre Ergebnisse versprechen. Gerade in unserer Zeit ist die Wissenschaft zu einer Hure der Wirtschaft verkommen. Diese zeigt sich zunächst darin, welche Wissenschaften überhaupt als förderungswert eingestuft werden. Wer Freude am Denken als Studienmotiv angibt, wird als Spinner belächelt. Dabei boomt der Markt der eletronischen Spiele, nicht nur mit Aktions- und Agressionsspielen, sondern auch mit Denksport und kreativer Phantasie. Dies sind alles Verlust-Indikatoren. Nietzsches Forderung nach einer »fröhlichen Wissenschaft« ist deshalb aktueller denn je.
Im weiteren Verlauf des Gedichtes nimmt die Aggression zu. Der Tanz stellt sich »zwischen Heilige und Huren«. Diese beiden Gruppen stehen für Ränder der allgemeinen Moral. Beiden Gruppen bringt der Angepaßte ambivalente Gefühle entgegen: Verachtung und Neid. Damit siedelt Nietzsche sein Tanzlied nicht etwa am gesellschaftlichen Rand an, sondern in einer Mitte, die es neu zu entdecken gilt. Das ist ungleich revolutionärer als alle Randgruppen-Verklärung. Auf diese neue Mitte folgt eine Verwünschung von allerlei Kranken, und diese scheinbare Anti-Humanität mag mancher mit dem Schlagwort von der »blonden Bestie« als Vorläuferin totalitärer Ideologien empfunden haben. Davon kann jedoch keine Rede sein. Richten wir unseren Blick ein wenig genauer auf die aufgeführten Gebrechen und Krankheiten: Da gibt es zunächst Leute, die sich »mit Binden wickeln« müssen. Was ist dies für eine Behinderung? Mir fallen hier zweie ein: Zum einen die Lichtallergie, die mit dem Tod von Hannelore Kohl in die Schlagzeilen geriet, ein solcherart Lichtscheuer muß sich vielleicht mit Binden umwickeln. Hier wird deutlich, daß das medinische Gebrechen ein höchst seltenes ist und kaum moralphilosophisch relevant, im Gegensatz dazu ist die umgangsprachliche Bedeutung des Wortes »lichtscheu« durchaus moralphilosophisch relevant. Auch wäre denkbar, daß sich jemand mit chronischer Diarrhoe mit Binden wickeln müsse. Aber auch dieses Gebrechen scheint mir vernachlässigbar gegenüber dem Heer von Leuten, die sich tagtäglich aus Feigheit in die Hosen machen, und wenn nicht gegenständlich, so doch im übertragen Sinne. So nimmt Nietzsches Kranken-Schelte keineswegs medizinische Gebrechen, sondern schuldhafte Laster aufs Korn.
Auch der »Krüppel-Greis«, der »angebunden« nicht tanzen kann, ist nicht etwa ein Kriegsversehrter, sondern jemand, der deswegen zum Krüppel und zum Greis wird, weil bei er sich von seinem Angebundensein nicht loszureißen vermag. »Heuchel-Hänse«, »Ehren-Tölpel« und »Tugend-Gänse« brauchen ja nicht näher erleutert werden, die kennt ein jeder. Auch »dürre Brüste« werden hier nicht als Alterscheinung gepönt, sondern als Markenzeichen der alten Jungfer. »Augen ohne Muth« faßt es zusammen, es geht um Leute, die kein Frohschaffen kennen, um den Durchschnitt, den die Moderne züchtet.
Am Schluß soll der Kranz des freien Geistes »an den Sternen« aufgehängt werden. Hier zeigt sich Nietzsches Vorliebe für die antike Kosmologie. Der Stern als Überirdisches, aber nicht als Unsichtbares, sondern als sichtbare Gottheit. Natürlich hatten auch schon die Vorsokratiker einen Begriff des Göttlichen und eine Vorstellung von der Wirksamkeit unsichtbarer Prinzipien. Aber im modernen Bewußtsein ist das Gleichgewicht zwischen Leib und Seele gestört. Der Leib verkümmert. Bei dieser Dignose ist ein honzschnitthafter Gesundheits- und Augenfälligkeitshymnus am Platze. Man darf so manches in diesem Tanzlied vermissen. Aber um beim Bild der ärzlichen Kunst zu bleiben: für derlei Tribut an Wissenschaft und Gerechtigkeit hatte der Arzt keine Zeit, denn der Patient droht ihm unter den Händen zu versterben.

IV

Im nächsten Gedicht wendet sich Nietzsche Goethe zu. Auf das Tanzlied folgt eine Parodie auf den »Chorus mysticus« am Schluß des Faust. Zunächst einmal verweigert Nietzsche Goethe damit den Respekt, daß er unreine und identische Reime stillschweigend berichtigt. Aber es bleibt nicht dabei, daß der unangemessene Pathos mäßiger Verse verspottet wird, es geht um Gottes- und Weltvorstellungen. Man könnte meinen, Goethe sehe sich seiner eigenen Maxime ausgesetzt: »Wie einer ist, so ist sein Gott, darum wurde Gott so oft zum Spott.« Nietzsche sagt nämlich, daß Goethes schludrigen Altersversen nicht die Verbindlichkeit zukomme, die ihnen der Philister andichtet. Er sagt, daß Goethes Glaube, den mancher als heidnisch zu betiteln sich bemüßigt sah, im Grunde eine Egomanie sei. Dieses Gedicht enthält überhaupt keine Kritik am Christentum. Nietzsche attestiert Goethe eine Privatmythologie ohne Redlichkeit. Sich selbst bringt er in diesem unfrohen Spiegel als »Narr« ins Spiel, er traut sich in diesem Gewande auszusagen, die Notwendigkeit des Schicksales, das der Dichter mit dem Faust zu gestalten trachtet, ihm sei es ein Spiel, ein herrisches Spiel mit Sein und Schein. Freilich tut Nietzsche Goethen auch keine Gewalt an, die er sich selbst nicht antut. Sein »Gott«, das »Ewig-Närrische« ist schon durch seinen Namen als Schöpfung des »Narren« ausgewiesen. Bedeutsam ist dabei die Schlußzeile, dieser Gott ziehn nicht etwa »hinan«, er »mischt hinein«. Ziel ist nicht die Transzendenz, sondern die Imanenz. So wird Goethe vorgeworfen, daß er, der immer Nähe zum Pantheismus zeigte, in der Schlußszene um des dichterischen Effektes willen, die Seele in eine Über- und Außerwelt fahren läßt.
Dies ist ein Grundmuster für Nietzsches Dichterschelte. Der Dichter weiß es besser, aber er opfert die Wahrheit einem Lapsus, den das Publikum oder die Kultur erwartet. Dies ist eine ganz anders geachtete Goethekritik als die am Fürstenknecht oder am Lebemann. Beides ist für Nietzsche in Ordnung, aber diese Unaufrichtigkeit in den letzten Dingen ist ihm ein Ärgernis. Er greift dabei niemals Leute an, die es nicht besser wußten oder nicht besser gestalten konnten. Er nimmt sich gerade Goethe vor, dessen dichterisches Können und dessen umfassender Horizont außer Frage steht.
Mit dem nächsten Gedicht bleibt Nietzsche beim Thema: »Dichters Berufung«. Dieser Titel läßt eine erhabene oder rätselhafte Ode erwarten, doch im Gegenteil, es geht neckisch und frivol zu. Nietzsche zeigt wieder einmal, daß er phantasievoller zu reimen versteht als mancher, der dies als seine Profession ausgibt. Das Interessante ist, daß das Dichten hier als ein Naturereignis beschrieben wird, wie Vogelsang, als eine Grille, die der Mensch offenbar nicht lassen kann. Dichten ist völlig gleichgesetzt mit dem rhythmischer und gereimter Rede. Auch einer, die zuweilen den Inhalt der Form opfert. Zunächst wird die aufkommende Neigung beschrieben, die sich nicht unterdrücken läßt. Dann findet sich aufs Geratewohl ein Thema, der Dichter ist nicht wählerisch. Der Reim sitzt »im Husche hintenauf«, und treibt die Szene voran. Schiefes und Trunknes wird in Kauf genommen, weil der Dichter, vom Rhytmus getrieben, wie ein Hamster im Laufrad, Vers um Vers hervorsprudeln läßt. Selbst auf Kritik kann er nur gereimt reagieren. Das Fazit liegt im Refain: »Achselzuckt der Vogel Specht.«
Was ist mit diesem Achselzucken gemeint? Nietzsche sieht in der Kunst etwas wesenhaft Menschliches. Ein Dichter zu sein ist ihm wie blonde Haare zu haben, eine Laune der Natur. Er weigert sich in diesem Tun eine Besonderheit zu sehen, aber er zeigt mit dem Gedicht, wie er selbst der Manie verfallen ist, Verse zu schmieden. Wenn er freilich hier tiefstapelt, sollten wir nicht vergessen, daß die Lieder im Titel einem Prinzen zugeschrieben wurden. Eine Laune der Natur ist noch lange keine beliebige. Und ein Achselzucken ist ja auch nicht nur Geringschätzung sondern auch Eingeständnis der Ratlosigkeit.
Einige Seiten weiter kommt Nietzsche auf ein Thema zurück, das bereits im »Mistral« anklang: die Sehnsucht nach dem Süden. Die Sehnsucht nach dem Süden wird den Germanen seit der Völkerwanderung nachgesagt. Schon in der Edda ist Baldur, der für den Süden steht, der schönste unter allen Göttern. Die deutschen Herrscher nannten sich fest ein Jahrtausend lang Römische Kaiser und Könige von Jerusalem. Auch der Erfolg der christlichen Mission erklärt sich aus dieser Sehnsucht, denn daß sich Gott unter südlichem Himmel inkarniert habe, leuchtete dieser Gestimmtheit ein. Nietzsche attestiert dem Süden Unschuld, Unschuld als das Gegenteil von Nachdenken. Sang und Geselligkeit ergeben sich dort wie von selbst. Am Schluß gesteht er, er habe im Norden ein schauderhaft altes Weibchen geliebt, die Wahrheit.
Die schlichten Verse sind von äußerster Leichtigkeit. Die Szene ist sparsam und geradezu iyllisch. In diese Idylle bricht der gänzlich deplazierte Begriff »die Wahrheit« geradezu brutal herein. Die Liebe zu diesem Weib wird so zu einer masochistischen Beziehung. Ganz nebenbei offenbart sich ein Abgrund.
Nietzsche hat sich schon in jungen Jahren leidenschaftlich mit dem Begriffe der Wahrheit auseinandergesetzt und oft in einem Satze Wahrhaftigkeit gefordert und das Lebensfeindliche der Wahrheitstreue zu bedenken gegeben. Sein Angezogen- und Abgestoßensein von diesem Begriffe wird recht anschaulich mit dem erotischen Bilde gezeichnet. Auf diese Weise kommt der Sehnsucht nach dem Süden ein Antiintellektualismus zu. Übertreibungen sind da willkommen, deutsch und schwer geht es sich zu Fuß, im Süden fliegt man wie ein Vogel. Die Wahrheit oder die Grübelei erscheinen als die eigentliche Erdenschwere, als die Dinge, die den Menschen hindern, wie ein Vogel zu fliegen. Ist die Philosophie mit ihren Fragestellungen am Ende überhaupt ein Irrweg?
Für Nietzsche sind Landschaften immer geistige Gestimmtheiten. Wird der Süden derart kraß von der deutschen Wirklichkeit geschieden, liegt offenbar eine massive Gleichgewichtsstörung vor. Der Philosoph sucht Heilung in der Sonne, die auch die Vorrede des »Zarathustra« hymnisch anruft. Aber schon das Gedicht »Nach neuen Meeren« zeigt an, daß Italien nicht das Ziel der Sehnsucht des Dichters ist. Von Genua bricht er auf, die acht Verse enden wieder mit einem philosophischen Begriffe, der Unendlichkeit. Dieser Pathos erscheint dem antiken Kosmos, dem Nietzsche sonst huldigt, diametral entgegengesetzt. Eher denkt man an Nikolaus von Kues und die Italiener der Renaissance. Nietzsche bleibt auch hier immer ein Wanderer zwischen den Welten. Er pönt Sokrates, der den Horizont der Polis aufbricht, aber er träumt von Kolumbus. Jede Stimmung sucht er philosophisch zu fassen. Er kennt keine erlaubten und unerlaubten Gefühle. Jedes, und erscheine es noch so flüchtig oder abseitig, sucht er mit der gleichen Akribie zu erforschen, zu schmecken, zu riechen und zu hören. Während der Rezipient in einer Ideologie versinkt, ist Nietzsche schon lang wieder woanders.
Dies kann zur Manie und zum Zusammenbruch führen. Viele Interpreten sehen Nietzsches Leben von seinem Ende her und deuten seine Grenzgängerschaft als Buhlschaft mit Wahnsinn und Tod. Ähnliches hat man zu Novalis und Hölderlin vorgebracht. Hier möchte ich noch ein Gedicht vorstellen, daß diese Vorstellung weit von sich weist: »Rimus remedium. Oder: Wie kranke Dichter sich trösten«. Hier bezeichnet sich der Philosoph explizit als Dichter, dazu als kranker. Er spricht mit der Zeit, mit der Lebenszeit, die ihm auszugehen droht. Zunächst verflucht er die unzuverlässige Zeit und die drohnende Ewigkeit in gleicher Weise. Der Schmerz offenbar die Herzlosigkeit der Welt und die daraus folgendes Sinnloskeit des Zürnens. Daraufhin begehrt der Dichter Opium und sucht die Zeit aus dem Hause zu jagen. Dabei besinnt er sich und ruft sie zurück, bietet ihr plötzlich Gold als Lohn und fragt ob er das Fieber segnen solle. An dieser Stelle kommt die Zeit mit solcher Mächtigkeit ans Krankenbett zurück, daß Wind und Regen durch die Haustür dringen, das Licht gelöscht wird uns allgemeines Chaos entsteht. Als nun sich zu inneren Bedrängnis eine äußere gesellt hat, resümiert der Dichter: »Wer jetzt nicht hunderte Reime hätte, ich wette, wette, der ginge drauf!«
Die Philosophie hat ausgedacht, die Reimerei aber heilt den Kranken, so kann man das Gedicht zusammenfassen. Ich habe nicht ohne Grund schon im Eingang Medizin und ärztliche Kunst verglichen, Gesundheit und Krankheit sind große Themen in Nietzsches Werk. Dies verkürzt, wer die Aussagen einzige mit dem Hintergrund von Nietzsches lebenslangen gesundheitlichen Problemen betrachtet. Die Erfahrung von Krankheit war für Nietzsche auch immer eine Erfahrung von Heilung. Er hat akut ausbrechende Leiden immer denen vorgezogen, die unbemerkt bleiben und die deshalb chronisch sind und in seinem mürben Jahrhundert immer häufiger werden. Nietzsche hat das moderne Phänomen der Sucht gültig gefaßt: »Der Kranke begehrt immer nach dem, was ihn noch kränker macht.« Dies ist nicht auf Chemikalien beschränkt, Nietzsche führt uns vor, wie sich Theater, Musik und Wissenschaft dieser Nachfrage beugen. Die Kunst und Gesellschaftstheorien sind für ihn Arzte, die den kranken Körper Europas täuschen und in seinem Wahne bestärken. Eine Heilung kann es nur geben, wenn die Krankheit offen ausbricht, wenn die Opiumtinktur vom Tisch rollt und die Bettdecke von Sturm davongetragen wird. Dies ist der Hintergrund von Nietzsches Kritik am Mitleid. Denn das Mitleid verhindert die immanente Heilkraft des Lebens.

V

Die voranstehenden Absätze haben genugsam gezeigt, wie viel Philosophie in wenigen Gedichten Nietzsches zu entdecken ist. Stärkster Ruhm wird der Poesie als sie sich als Heimittel des Lebens selbst offenbart. Dies kann sie aber nur, weil sie eben nicht ein Überbau ist, wie die Marxisten sagen wurden, sondern eine originäre Naturkraft. Dagegen ist Wissen immer ein Abgeleitetes, eine Hinterfragwürdiges und Irrtumbehaftes. Jenseits der Mutmaßungen allen Denkens liegen die zweckfreien Äußerungen des Seienden. Sie sind nicht allein in der Natur zu finden, sie treten auch im menschlichen Schaffen auf, wenn dieses nicht durch kurzatmige Erwartungen verzerrt ist.
Es ist vielleicht nicht ganz überraschend, wenn ich feststelle, daß ich mir für meine Gedichte Interpretationen in der Art meiner zu Nietzsche wünschte. Natürlich wünschte ich es mir noch viel mehr, wenn im heutigen Deutschland eine Jugend das revolutionäre Potential der Poesie wiederentdeckte, und ich selber Interpretationen zum Preise dieser Jugend schreiben dürfte. Nietzsche lehrt uns, daß die Erde diese Dinge freiwillig gebären wird, und daß zwanghaftes Mühn die Quellen verschüttet. Der Hysteriker ist auch ein Synonym für den Modernen bei Nietzsche.
Das Gedicht ist für Nietzsche ein Reimgedicht, und es ist Spruch und Lied. Im Spruch dominiert die prägende Formel, die gültige Fassung einer Erkenntnis. Das Lied hingegen ist eine Annäherung und ein Verwandlungsritus, wer singt tritt in eine Sphäre ein, wo sich die Nebel der Bedenklichkeiten auflösen. Schuld und Urteil werden zu Schemen. Verspottet von den Vögeln, von denen Jesus gesagt hat, sie säten und ernteten nicht und würden doch vom Herrn ernährt. Dies ist keine Aufforderung zu Passivität und Entsagen. Es ist der Aufruf zu Vertrauen und zum Wahrnehmen einer unendlichen Geborgenheit. Nietzsche hat dies das Leben genannt. In der Welt des Sterblichen ist die Gnade in der Tat das Leben. Dem widerspricht nicht, daß das Leben grausam und unbegreiflich erscheint. Das Urteil der Grausamkeit ist nur Folge unserer beschränkten Einsicht. Sie wird in jeder Zeit beschränkt bleiben. Es steht uns jedoch in jedem Wissensstand frei, das Wunder des Lebens dieser Unbegreiflichkeit entgegenzuhalten, denn wir erfahren das Wunder mit allen Sinnen, wenn wir der Geborgenheit in Zeit und Ewigkeit vertrauen.
Wenn das Entscheidende aber außerhalb unserer Verantwortung geleistet wird, entpuppt sich die Zweck- und Nutzenversessenheit des Menschen als Wahn. Nietzsche polemisiert immer wieder gegen die Hinterweltler. Hier geht es nicht nur um eine Erkenntnistheorie, sondern um eine Ethik. Ein Leben, das sich ein ihm Wesensfremdes zum Ziel setzt, frevelt wieder seine Bestimmung. Dies ist nun nicht als Aufforderung zu plumpem Egoismus zu verstehen. Denn das Gesetz des Lebens ist keineswegs ein blinder Entfaltungsdrang ohne Sinn für die Kosten der Umgebung. Ein Mensch, der seinen Nachbarn nicht kennt, lebt so lebensfeindlich wie ein Huhn in einer Legebatterie. Auch wer die Blume am Wegrand nicht zu benennen weiß und den Greifvogel am Himmel mit falschen Namen anspricht, ist aus dem Heil gefallen. Die Nächstenignoranz geht einher mit einer Fernstenliebe, die die modernen Medien züchten. Das Übel sind nicht die Naturkräfte, die in diesen Surrograten gefangen sind. Das Übel ist der Aberglaube, daß aus dieser Abgelöstheit etwas Gutes kommen kann. Wer das Heil sucht, der suche die Quellen auf. Sie liegen in der Natur und in den originären Äußerungen unseres Leibes. Die Poesie gehört dazu. Die Runenzeichen der Bücher nehmen ihr die Aura des unmittelbaren Vortrages, aber sie zerstören sie nicht im Kern, wie es die Apparrate, die in lügenhafter Gleichsetzung ebenfalls Medien genannt werden, tun.
Was man bei Nietzsche immer wieder lernen kann, ist neben der Leiblichkeit des Instinkts und der Korrumpierbarkeit des Intellekts auch immer wieder die Feststellung, daß der Mut über allen anderen Tugenden steht. Daß jemand aus Dummheit die Wahrheit nicht faßt, ist ungleich seltener als der Irrtum aus Feigheit. Dem Glück der Poesie steht ein feiges Mißtrauen entgegen. Darum lehrt Nietzsche immer wieder sich fallen zu lassen, sich wiegen zu lassen, zu träumen – kurz: die Furcht zu verlieren. Der Furchtsame bringt selbst die Dämonen hervor, die ihn zerstören. Damit komme ich auch auf die Wissenschaft zurück. Neben der Selbstüberschätzung ist es ein törichtes Tun, auf das Noch-nicht-Gewußte oder Nicht-Wißbare zu starren wie das Kaninchen vor der Schlange. Es gibt ja einen Ausweg, und der nennt sich die – Kunst.